Eine gute Zeit
(Herbst 2019,Bremen)









Ich sitze am Fenster und schaue hinaus in den Herbstmorgen.Der anfängliche Optimismus nach meiner Entlassung schwindet hier zuhause manches Mal schnell,viel zu schnell.
Noch hält er an.

Zuvor :
Nachdem ich im September die Autismustherapie wieder aufgenommen hatte lief es kurze Zeit gut hier zuhause,an jenem Ort der mir Rückzugsmöglichkeit und Schutz gewährt,aber auch Schauplatz von Zwängen und Ängsten ist.
Wir überlegten in Therapiegesprächen,welche Aktivitäten ausserhalb mir helfen könnten und so nahm ich Kontakt mit der Tagesstätte auf,in der ich mehrere Jahre Klient war.
Zusammen mit meiner Therapeutin ging es mit dem Auto also in den Südkreis.Im Gespräch dort tauchte verständlicherweise auch die Frage auf,welche Aufgabe meine Therapeutin des Autismustherapiezentrums hat,wie ich zu der Diagnose kam und warum sie mich begleitet hat.
Genau dieser Moment hat mich innerlich wieder in einen tiefen Konflikt mit meinem Gewissen gebracht.Ich hielt anfangs noch dagegen und meine Therapeutin hat meine Situation sehr gut darstellen können.Der Tag hätte entspannt enden können,tat er aber nicht.
Zwei Tage später,mitten im Alltag erreicht mich eine email,unerwartet.Den grössten aber nicht letzten Fehler hatte ich zuvor begangen.Ich schrieb einem Chefarzt einer psychiatrischen Abteilung,der zu Beginn meiner Behandlung in den 90ér Jahren für mich zuständig war eine email.Meine Frage,ob er sich aus damaliger Sicht eine Autismusspektrumstörung bei mir erklären könnte,beantwortete er nicht ganz klar,zumal er sich nur vage an mich erinnern konnte.
Aus seiner Sicht hielt er es für wahrscheinlich,aber alleiniger Grund meiner Schwierigkeiten könnte das wohl nicht sein.
Jetzt fragen sich viele,weshalb mir diese Diagnose so wichtig ist,wichtiger als jede andere der vielen,die ich hatte.In meinen Arztbriefen tauchte von Schizophrenie über Borderline und posttraumatischer Belastungsstörung so ziemlich alles auf. Nun,diese Diagnose gibt mir das Gefühl,so in Ordnung zu sein wie ich bin.Fast meine gesamte Lebenszeit begleiten mich Rituale,Zwänge,Depressionen und sehr sonderbare Eigenschaften.Sie ist eine sehr gute Erklärung für die meisten meiner Probleme,hier im Alltag,nicht die alleinige,aber dennoch ausreichend genug für mich (?)
Mehrere Jahrzehnte in der Psychiatrie verbrachte Zeit geben genügend Raum zum Zweifeln an sich und seinen eigenen Gefühlen.Ist das krank,was ich fühle? Sind meine Zwänge die Ursache,die Folge,die Begleiterscheinung von Was-auch-immer ?Halte ich mich selbst krank,oder ist meine Schnittstelle zur Aussenwelt so anders,dass ich im Leben nur mit immensem Kraftaufwand und gerade diesen Mitteln zurechtkomme ?
An diesem Tag plagte mich mein Gewissen so sehr,dass ich mich etwa 90 Minuten später in einer geschlossenen Akutstation der zuständigen Psychiatrie befand.
Fehler Nummer zwei.
Der zuvor hinzugerufene Psychiater vom sozialpsychiatrischen Dienst frug mich nach meiner Einstellung zum Leben.Nein,suizidal war ich nicht,aber in so einem schlechten Zustand,dass es zumindest in meinen Akten stand,die mit mir zusammen im Rettungswagen zur Klinik gebracht wurden.
Ich konnte kaum berichten,was passiert war,ich verlor wieder meine Stimme und zweifelte mich selbst so stark an,dass ich zum Schatten meiner selbst wurde.
Die Station durfte ich nicht verlassen,ich bekam leider keine Gespräche und viele Missverständnisse prägten diesen neun Tage dauernden Aufenthalt.Es war die Hölle für mich,denn in meinem Ausgang eingeschränkt zu sein,mit vielen anderen Patienten und einem davon ständig im Doppelzimmer zusammen,liessen mich an einen absoluten Tiefpunkt kommen.
Mit dem Smartphone konnte ich mich quasi befreien,trotz sehr schlechtem Empfangs durch die dicken Wände,die für mich noch dicker waren.Die Psychiaterin einer Bremer Klinik,die seit vier Jahren für mich zuständig ist (und die Diagnostik bezüglich Asperger befürwortet hat) ermöglichte mir eine Übernahme in ihre Klinik.Binnen 24 Stunden musste ich mein Gepäck nachhause bringen,dort alles für die weitere Therapie in Bremen packen,Formulare ausfüllen,mit Nachbarn sprechen und aufgrund des Stresspegels nochmehr putzen,als ohnehin schon.
 
Auf einem Donnerstag kam ich in Bremen nach einer zuhause schlaflos verbrachten Nacht an.
Zum ersten Mal wären mir fast die Tränen gekommen,die schon lange nicht mehr sichtbar sind,warum auch immer.
Ich saß am Fenster,am Ende vom Flur schaute in den Himmel.Noch zwei Tage kamen mir die Ereignisse wie in einem verdammt üblen Film vor,dann ging es mir besser.
Meine Stimme kam wieder,zuerst unsicher,dann wagte ich mich zwischen die Mitpatienten und das Stationsteam.
Ich spürte schnell wieder den Himmel über mir und den Boden unter den Füssen.Das Rauschen,der Tinnitus ließ nach.
Die Psychologin der Station sprach mit mir über die Ereignisse,der letzten Wochen.
Schon zwei Tage später fuhr ich mit Fahrrad in den  benachbarten Bremer Künstlerbedarf.
Mit Leinwand und einigen etwas hochwertigeren Farben ging es dann recht fix in die Ergotherapie.
Die anderen Patienten der Station waren verändert aufgrund meiner schnell verbesserten Stimmung.



Der Alltag in einer Klinik wird häufig als sehr monton oder aber auch zu anstrengend beschrieben.
In meinem Fall geht es nicht um die Behandlung von Traumata,einer Borderline-Störung oder Depressionen nach einer zwischenmenschlichen Krise.
Meine Schwierigkeiten liegen in der Reizverarbeitung,im Gleichgewicht-Finden in sozialen Kontakten und im Haushalten mit eigenen Kraftreserven.Habe ich das gut im Griff,geht es mir relativ gut und das spüre ich in dieser Zeit auch.
Meine Zwänge verschwinden natürlich nicht einfach,zum Teil bringe ich sie hier unter,zum Grossteil finden sie in meinem Denken statt.Später,also zuhause mehr in der Handlungsebene,beides wirkt sich ermüdend aus und hält meine Depression aufrecht.
Im stationären Rahmen sind soziale Kontakte gegeben,in Form von (vielzuvielen)Mitpatienten und Personal,also muss ich mir dort eher ruhige Stellen aussuchen.Die ruhigste Stelle wäre natürlich zuhause,dort gilt es mehr Kontakt selbst aufzusuchen,mir gelingt beides schwer.
Beim Malen fragen mich viele,der umherlaufenden Patienten oder der Therapeut etwas,bin ich erstmal tief versunken darin dann antworte ich kaum noch oder nur sehr gereizt.
Es gilt auch hier ein Gleichgewicht zu finden,ein für mich gesundes Maß an Kontakt und Gespräch.
Praktisch für mich,über die Malerei steht das Thema schnell fest,denn nichts ist für mich sinnfreier als smalltalk und die tägliche Frage,wie ich geschlafen habe oder mich fühle.Wie fühlt man sich in einer Klinik ?Vielleicht ist diese Frage gerechtfertigt,denn es gibt Menschen,die einem helfen wollen an diesem Ort.
Mit dem Fahrrad fuhr ich gerne Nachmittags,nach den Therapien durch Bremen.
Ich bin der Meinung,dass das die beste Möglichkeit für mich ist,Spannung abzubauen.
Mir machte der Stadtverkehr anfangs Probleme,ich fluchte wieder,innerlich und äusserlich.Mit der Zeit wurde das besser.Meine Einstellung zur Aussenwelt hat sich verbessert.
Ich fand die nötige Ruhe und Konzentration zum Fotografieren,wenn auch nur mit einer einfachen Smartphonekamera.
Es gibt schöne Orte in Bremen,jenseits von Marktplatz,Schlachte oder Schnoor.
Eine Mitpatientin sprach vom Riensberger Friedhof und ich gab ihr den Tip,mal raus in die Wümmewiesen zu fahren.
An beiden ruhigen Orten war ich sehr gerne und mehrmals.

Das Leben ist eigentlich einfach dachte ich
an solchen Tagen.
Doch meine Stimmung kann so schnell 
kippen,da braucht es manchmal nur ein
Kommentar,eine Geste,ein lauter LKW oder Schwierigkeiten mit den Behörden,dass mein seelisches Fundament in sich zusammenfällt.
Mal puffer ich das besser,mal schlechter ab.
Die Wochenenden habe ich meistens zuhause verbracht.Samstags konnte ich ab 11 Uhr mit Strassenbahn und Zug in die "normale" Welt zurück.Das was ich davon in den öffentlichen Verkehrsmitteln und in der Innenstadt erlebte,liess mich schnell wieder zweifeln am einfachem Leben.
Im öffentlichen Raum bin ich äusserst angespannt,mein Gang ist recht zügig,der Blick erfasst sovieles was für diesen Moment nicht wichtig ist.
 Kann man sich daran gewöhnen oder anpassen ?
Ich werde solche Situationen glaube ich nie einfach finden.
Unterwegs fehlt mir der ruhige Raum in mir selbst.
Selten fahre ich an unbekannte Orte,ungerne lasse ich mich zu Ausflügen überreden.Dass da einiges im Argen liegt ist mir durchaus bewusst,denn Ausflüge bereichern das Leben schliesslich auch.
An einem Wochenende,zuhause sprang mich förmlich die liegengebliebene Arbeit,Post und der Hund der Nachbarin an.Letzterer tut mir gut,denn Tiere haben eine beruhigende Wirkung auf mich.Sie dürfen zwar nicht in meinen Rückzugsort Wohnung,aber ausserhalb,gerne!
So steht auch direkt schon ein Gesprächsthema fest,nämlich jene schwarze,lebhafte Hündin.
An manchen Tagen ist sie sehr einsam dort oben in der Wohnung über mir.Ich hatte mal die Idee,zu fragen,ob ich sie mit in den Wald nehmen darf.
Dadurch könnte jedoch auch schnell Enttäuschung entstehen,wenn schwere Zeiten mich davon abhalten,so wie ich sie gerade erlebe.
Meine Nachbarin hat wenig Zeit für ihre Mitbewohnerin,die gerne draussen sein möchte.Zeit haben,das ist immer wieder Thema bei mir.
In der Klinik wurde an einem Nachmittag eine tiergestützte Therapie angeboten.Da beobachten und fühlen die Patienten mal das Fell eines Hundes,Meerschweinchens oder haben plötzlich ein Huhn vor sich stehen.
Tiere kennen keine Zeit,sie leben nicht nach einer strengen inneren Uhr denke ich oft.Das ist der Preis des menschlichen Bewusstseins und der ist enorm gestiegen,so kommt es mir vor,jenseits der 40 Lebensjahre auf diesem Planeten. 
Triste Klinik? Nee !
Auf dem Klinikgelände stehen sehr alte Bäume,die mich verträumt in ihr Blätterdach sehen lassen.
Es macht sehr viel aus,ob man an ein steriles Aussengelände oder eine parkähnliche Anlage gerät.
Für mich auch toll,für viele nicht,Rauchen ist nur draussen gestattet.
Auf der Station klebt also kein Nikotinschleier an den Wänden und eigenem Körper.

Noch im Oktober stehen überall Liegestühle,so kommt es,wie auf diesem Bild zu sehen,dass ich dort einfach in den Himmel starre und dabei wahrscheinlich lustig aussehe.
Unter der Glasglocke Psychiatrie fällt mir das leicht,zuhause würde ich diesen Liegestuhl wahrscheinlich nie belegen,weil es immer etwas scheinbar wichtigeres gibt.
Ist es nicht wichtig genug,dass es einem selbst gut geht ? Es ist mir sehr wichtig,doch der innere Teil,mein Über-Ich und die stereotypen Handlungen sind es leider auch.
Es braucht beides in meinem Leben und das nicht erst seit gestern.
Im Zweierzimmer habe ich einen sehr netten,gleichaltrigen Mitpatienten.Er leidet seit einem Trauma,vor einigen Jahren,an starken Zwängen.Zu seinen Spitzenzeiten verliess er seine Wohnung auch nicht mehr,weil der Zwang ihn nicht entliess in die Aussenwelt.Kommt mir bekannt vor.Wir verstehen uns sehr gut,selbst die Reinigungskräfte wundern sich,dass zwei Männer ein so sauberes Zimmer bewohnen,das in drei Minuten geputzt ist.
Jeder von uns beiden braucht spätestens zuhause auch wieder länger für das ewige Thema Sauberkeit und Ordnung.
Ordnung im Innern,Struktur und Halt.
Mein Nachbar kann kaum glauben,dass ich schon fast ein Leben lang so zwanghaft bin,ich erzähle ihm nur vorsichtig davon,er könnte hoffnungslos werden.
Hoffnung haben wir beide.
So kommt der letzte Tag dieses Klinikaufenthaltes.
Wie es der Zufall will werden wir am gleichen Tag entlassen.
Am Vortag packen also zwei zwanghafte zügig zusammen (das sind vier Worte mit -z-) ihre Taschen.
Schlaflos waren wir beide,der nächste Tag endet ausserhalb unseres so sicher erscheinenden Alltags in der Klinik.

Diese Zeilen schreibe ich knapp zwei Wochen später.
Ich sitze im Wohnzimmer,schaue über den Rand meiner Kaffeetasse auf den Balkon.
Die Ruhe der Klinik spüre ich noch und auch die Freude,wieder Intimsphäre,ein eigenes Bett und vor allem immer freien Ausgang zu haben.
Letzterer blieb mir neun Tage verwehrt zu Beginn dieser Zeit,zu Beginn einer Krise. 

Langsam wird es Winter und zurück bleibt sie,
die Erinnerung an eine gute Zeit.