Der letzte Schultag
Lange bevor der kleine Radiowecker klingelt, stehe ich auf. Ich bin sehr nervös,mir ist sehr flau im Magen. Meine Eltern schlafen noch, sie sind irgendwann gestern Abend nach Hause gekommen, ich lag bereits früh im Bett. Es soll sehr warm werden am heutigen Tag. In der Küche gieße ich mir einen Instantkaffee auf, schwarzen Mocca, nur mit Süßstoff. Danach löse ich drei Vitamintabletten in einem grossen Glas Wasser auf. Ich bilde mir ein, der Mix aus Vitaminen und Mineralstoffen hält mich heute wach, aufmerksam,leistungsfähig ,für die letzte Abi-Prüfung. Es ist der Tag der mündlichen Prüfung, Geschichte in meinem Fall. Noch schnell werfe ich zwei Scheiben Brot weg ,lasse ein paar Krümel auf dem Teller liegen, daneben schmiere ich etwas Honig und Marmelade an den Tellerrand. Es soll für meine Eltern, die gleich aufstehen werden, so aussehen, als hätte ich gefrühstückt. Ich frühstücke längst nicht mehr ,hüte ein Geheimnis, von dem kein anderer weiss, ich selbst wohl auch nicht.
Im Hausflur verabschiede ich mich noch von meiner Mutter, gehe hinunter ,hole mein altes Hollandrad aus dem Keller ,mein Rennrad ruht unter Bettlaken ,vor Schmutz geschützt daneben. Die Sonne strahlt hell, der Tag wird warm, doch in diesem Sommer werde ich nicht schwitzen, mein Körper fühlt sich irgendwie anders an. Die Müdigkeit macht mir zu schaffen. Ich biege auf den Feldweg ein, der mich zum Nachbarort führt, eine Strecke von ungefähr sechs Kilometern, die ich seit drei Jahren konsequent mit dem Fahrrad fahre. Meine Mitschüler sind längst in Autos unterwegs, treffen sich vor der Schule auf dem Parkplatz. Auf meiner Fahrt mit dem Fahrrad bin ich meist alleine. Heute fällt mir auf,wie schwer dieses grüne Hollandrad fährt, nicht weil es keine Gangschaltung hat, sondern irgendwie am Boden klebt.Ich strenge mich an, die übliche Fahrtzeit einzuhalten, keine Schwäche zeigen, heute am letzten Schultag. Die vergangenen Wochen bestanden aus Bücher lesen, stundenlang in meinem Zimmer. Ich ging jedes Fach noch einmal genau durch, um nichts zu vergessen, was in den Abiprüfungen von mir erwartet werden könnte. Nebenbei trinke ich sehr viel Cola-Light, jedenfalls muss ich die Flaschen in meinem Zimmer verstecken und heimlich neue holen, denn meine Mutter soll nichts merken ,von meinem Gehirn-Doping. An der Schule angekommen stelle ich das Fahrrad noch einmal in den Fahrradständer, schliesse ab,gehe zum Schulgebäude, in dem heute die mündliche Prüfung stattfindet. Ich vermeide es, viel mit meinen Schulkollegen zu sprechen, denn irgendwie bin ich innerlich ganz woanders, wo ich endlich mal alleine sein kann und mich geschützt fühle ,vor der Welt um mich herum.
Im langen Flur nehme ich ein letztes Mal Platz auf der Stuhlreihe. Ich bekomme den Prüfungsbogen ausgehändigt und habe, eine halbe Stunde Zeit mich vorzubereiten ,auf die Fragen, die mir hinterher gestellt werden, von meinem Geschichtslehrer und weiteren Prüfern vom Kultusministerium Düsseldorf. Thema der Prüfung, Nationalsozialismus - Machtergreifung Hitlers .Zu diesem Thema bin ich zwar soweit gut gerüstet, aber meine Nervösität, meine Angst ,lässt mich zittern, mir wird schlecht, meine Stimme bebt innerlich, die Füsse wippen unterm Tisch. Das Ergebnis ,die Benotung, werde ich erst später bekommen.
Die Prüfung war abgeschlossen.Ich wechsele noch ein paar Worte mit meinen ehemaligen Schulfreunden, habe das Gefühl, in der Prüfung versagt zu haben. Mit schlechter Stimmung gehe ich zum Fahrradständer neben der alten Turnhalle, in der wir immer Sport hatten. Es war jedesmal eine beklemmende Atmosphäre, im Sportunterricht, es hatte etwas von Bloßstellen eigener Schwächen und Fehler. Nur die Leistung zählte, in dieser Halle. Auf dem letzten Weg zurück nach Hause ist mir bewusst, daß ich nur noch einmal hierher komme, um das Reifezeugnis in Empfang zu nehmen, wenn ich es bestanden habe, was mir in diesen Tagen alles andere als wahrscheinlich vorkommt.
Ich biege ein, in die Strasse ,die zu meinem Elternhaus führt.Meine Eltern kommen mir entgegen und fragen mich, wie es geklappt hat. Ich äussere alle meine Bedenken und das Gefühl, nicht zu bestehen.Mein Mittagessen steht auf dem Tisch und ich lasse es schnell in die Toilette verschwinden.In letzter Zeit finde ich tausend Gründe, alleine zu Essen. Mal habe ich frühzeitiger Hunger, mal bin ich nervös ,wegen der Prüfungen,ein anderes Mal will ich einfach meine Ruhe haben.
Dies war mein letzter Schultag ,so sollte es sein.
Ich fuhr ein paar Wochen später nochmals zur Schule, um mein Abi-Zeugnis abzuholen. Die anderen Schüler hatten es auf dem Abi-Ball, einer Feier mit den Eltern,möglichst im Anzug, entgegengenommen. Ich lag an diesem Tag schon früh im Bett, ich hatte Angst vor der Feier und war froh,daß meine Eltern keinen grossen Wert darauf legten ,dorthin zu gehen.
Ich wog damals knapp 45 Kilogramm ,hatte Magersucht und eine schwere Depression ,kam zum ersten Mal in psychiatrische Behandlung .
Das war der Tag, an dem ein anderes Leben anfing.
Es war der Anfang einer langen Suche, einer Reise zu mir selbst.
Gleichzeitig war es die grösste innere Leere, die ich jemals gespürt hatte.
Ich denke besonders im Sommer an diese Zeit zurück und es kommt mir vor,als wäre es erst Gestern gewesen.
Meine Familie stand vor einer neuen Situation, wir haben viel gesprochen, wo vorher Worte fehlten.
Von diesem Tag an, lief vieles anders ab, als es geplant war.
Von diesem Tag an, lief vieles anders ab, als es geplant war.