Ich sitze bei meiner Stammfriseurin auf dem Wartesofa ,es dauert noch eine Weile ,bis ich an die Reihe komme. Ich erblicke mich in einem der grossen Spiegel. Es kommt der Moment,in dem ich mich frage, wer der Mensch dort gegenüber ist. Ich schaue in meine Augen, es fällt mir schwer nicht wegzuschauen. Ich entdecke Spuren meines Lebens an mir selbst,ohne behaupten zu wollen,ich wäre alt geworden. Wir alle werden älter,doch das stört uns bei anderen nicht sonderlich, jedoch bei uns selbst umso mehr.
Meine Friseurin stammt ,mit Anfang Zwanzig,aus einer anderen Generation. Sie erzählt mir,wie sie mit ihrem Freund eine Wohnung einrichtet. Sie spricht sehr selbstbewusst,hat ihre eigenen Erfahrungen in Worte gefasst. Ich werde nachdenklich, ich weiss,daß Vergleiche nicht sonderlich förderlich sind,dennoch fällt mir der Unterschied zu meinem Leben, eher schmerzlich, auf.
War es mir jahrelang egal,was mich selbst ausmacht,im Gegensatz zu meinen Mitmenschen ? Nein,egal war es mir nicht, ich habe mir mein Leben aus den Augen eines Zwanzigjährigen, als einen schier unendlichen Weg vorgestellt,auf dem ich viele Möglichkeiten haben würde, mich in irgendeiner Form zu verwirklichen.
Damals war ich mit den Auswirkungen der Anorexie beschäftigt, weniger mit der Verwirklichung von beruflichen und partnerschaftlichen Zielen.
Die Loslösung von meinen Eltern war lange Jahre ein brisantes Thema. Es war nach Aussen sichtbar, daß ich grosse Probleme hatte, mir ein eigenständiges Leben aufzubauen.Ich hatte die feste Kontrolle über meinen Körper und damit ein Gefühl von Autonomie, von scheinbarer Eigenverantwortung. Die Magersucht ebbte viel später ab,im Gegenzug bekam ich Ängste,Depressionen, die mir ihre Grenzen wiesen und mich fest im Griff hatte. Alle diese Symptome machten plötzlich Sinn ,ich fand mich wieder in den Erfahrungsberichten und Büchern seelisch Kranker. Ich war froh, einen Namen für dieses Chaos zu haben und in einer Parallelwelt eine Identität zu besitzen.
Mir fiel auf ,daß meine ehemaligen Mitschüler anders lebten, vielmehr als ich es konnte,in Beruf und Familie eine Zukunft suchten. Ich suchte in mir selbst eine Antwort auf die stete Frage, wer ich eigentlich bin. Mein Leben zeigte auf,daß es grosse Defizite gibt,daß diese Fragen gelöst werden wollten.Tief in mir fühlte ich mich leer, wie ein Tagebuch ohne Eintrag ,ein Schiff ohne Hafen.
Ich konnte nicht Mitreden, von vielen ganz alltäglichen Ereignissen. Irgendwann, ich war Ende Zwanzig, war es mir egal. Ich hatte mich endlich abgefunden mit meiner Geschichte. Die Wunde war noch da, aber sie schmerzte nicht mehr in dem Maße, wie in den Anfangsjahren. Ich lernte sehr viele Menschen,mit einem ähnlichen Lebensweg kennen,was zu einer Akzeptanz,eigener Schwächen führte. Mit der Malerei hatte ich eine kleine Identität, eine eigene Stimme, ein Quell steter Ideen und Herausforderungen.Es trat Ruhe ein und ein Gefühl von Alltag enstand. Die Suche nach Perfektion und Leistung war jedoch immer noch ein Problemfeld,wenn auch nicht so dringlich. Meine Freunde und Familie akzeptierten meinen Lebensweg und es trat eine Ruhe ein, so könnte es bleiben,dachte ich.
Mit dem Überschreiten der Dreissig entfachte sich erneut der Konflikt zwischen Erwartung und Realität. Langsam ,allmählich schlich sich die Frage nach Sinn erneut in mein Leben. War ich zuvor der Borderlinepatient,mit all seinen Facetten ,konnte ich nun keine Antwort mehr finden und der innere Zwiespalt zwischen hoher Erwartung und Realität wurde grösser.Wer bin ich schon,ohne Ausbildung, Beruf ?
Ich sah mich, im Vergleich zu gleichaltrigen, in einer anderen Lebenslage, mit anderen Themen beschäftigt.Ich wurde angreifbarer,unruhiger in mir selbst ,denn meine Fassade bröckelte,Stück für Stück verlor ich meine eigenen Ziele erneut. Ich beobachtete die Menschen um mich herum, wurde neidisch auf sovieles, was mir vorher egal war. Wie konnte ich mitreden von Beruf und Familie ? Was hatte ich vorzuweisen ? Worin liegt der Sinn,in allen folgenden Jahren ?Der stete Vergleich ging zu Lasten meiner Gesundheit. Es wurde erneut sichtbar,daß der Konflikt wieder aufkochte. Ich wertete mich gnadenlos ab, konnte immer weniger eigene Fehler eingestehen. Die Messlatte hing von Tag zu Tag höher, nur mit hohem Aufwand hielt ich das Niveau, bis ich ,irgendwann im Sommer wieder völlig zusammenbrach.
Die Mauer um mich herum wurde höher, wie zu Anfang meiner Krankheit, ich bekam plötzlich Angst vor dem Sterben, vor Schwäche und Zerfall. Ja,auch mein Körper würde sich irgendwann wieder meiner Kontrolle entziehen. Ich wurde in dieser Zeit ,gefühlt ,um Jahrzehnte älter. Morgens stand wieder die Angst vor dem Tag an meinem Bett und Nachts fand ich keinen Schlaf, wie auch ? ich war niemals zufrieden mit mir und weit weg von einer realistischen Selbsteinschätzung. Plötzlich zerbrach mein kleines Ich wieder. Ich habe keinen Beruf vorweisen können, ich war quasi ein Nichts, ein leeres Buch, eine menschliche Hülle. Älterwerden mit dieser Persönlichkeit war und ist eine ständige Suche nach einem eigenen Ich. Und schon wieder taucht der Begriff der radikalen Akzeptanz auf. Ich bin ein Mensch, in allen Farben geblieben ,mir ist es jedoch nicht bewusst, ich sehe alles wieder in Schwarz-Weiss,selten in Grautönen. Ganz unschuldig ist die neue Zeit nicht, denn die Tendenz geht zu immer mehr Perfektion von Körper, beruflichem Erfolg und höherer Leistungsbereitschaft.
Älterwerden mit einer seelischen Wunde bedeutet für mich eine Neuorientierung ,eine Suche nach geeigneten Aufgaben und einem sozialen Umfeld,welches mich nicht überfordert. Das Anerkennen der eigenen Grenzen ist immer noch ein wichtiges Thema.Die Grenzen liegen woanders, die Zeit steht nicht still. Es wird immer Menschen geben ,die mehr als ich erreichen, obwohl man Leben nicht vergleichen kann. Hierzu fällt mir ,der im buddhistischen Leben,häufige Begriff von Leerheit ein. Leerheit bedeutet hierbei die Existenz eines übergeordnetem,unzerstörbarem wahren Selbst,das sich nicht durch materiellen Besitz oder Fähigkeiten verändert. Eine sicherlich hohe Aufgabe ,doch wer schafft es schon, sich selbst einen Wert zuzuordnen,der von weltlichen Dingen unabhängig ist ?
Älterwerden mit Ängsten heisst auch, Gut-auf-sich-Achtgeben, den Körper und seine Signale zu spüren ." Tun Sie sich was Gutes " habe ich oft gehört und es ist sehr wichtig geblieben. In den Jahren zuvor muss ich das irgendwie verlernt haben, indem ich mein Leben mit dem eines anderen verglichen habe.Ich sehnte mich wieder nach Perfektion und Anerkennung ,die ich jedoch nicht zugelassen hätte.Auch nach vielen Jahren bleibt die Aufgabe bestehen, mich selbst nachzuspüren, und zu unterscheiden, was der eigene Anspruch ist und der ,der Umwelt. Ich habe und darf Fehler machen. Dieser Weg ist mein eigener und er führt weiter durch neue Abschnitte des Lebens, die alle ihr eigenes Thema haben. Ich glaube das will mir diese Zeit sagen.
Und so verlasse ich den Friseursalon wieder und gehe zurück in MEIN Leben und nicht das eines anderen.Es fällt mir noch schwer...