Wo alles begann


Juni 1993,eine Woche nach seinem 19.Geburtstag,ein junger Mann geht durch den Stadtpark,an den Enten vorbei zur nächsten Parkbank.
Er setzt sich kurz auf jene hölzerne Bank,wobei er seine Hände unter das Gesäß hält,denn so ist es weicher.
Mit leerem Blick schaut er in die Weite.
Seine Beine lassen lange Schatten auf den Weg fallen.Sie wirken wie Fäden die an ihm baumeln.Man könnte ihn für Jahre jünger halten,er sieht eher kindlich aus.Dort sitzt er,im Sommer mit einem Holzfällerhemd und langer Hose bekleidet.
Der Park ist leer,die meisten arbeiten um diese Tageszeit noch,am frühen Nachmittag....
....So könnten es auf der ersten Seite einer Geschichte stehen....
Es hat in der Tat etwas mit einer Geschichte zu tun.
Der Mann,der dort sitzt,war ich selbst,im Sommer 1993,kurz nach meinen Abiturprüfungen.
Den Ort,jenen Park habe ich letzte Woche besucht,als ich nach sehr langer Zeit wieder bei meinen Eltern war.
An diesem damaligem Tag hatte ich nicht die Spur einer Ahnung,daß ich eine Krankheit habe.Es war ganz normal,in wenigen Monaten fast zwanzig Kilogramm abzunehmen,die meiste Zeit alleine,irgendwo draussen zu verbringen.
Ich erklärte mir und Anderen,daß ich unter dem Stress des Abiturs stehe und viel leisten musste in den letzten Tagen.
Ja,irgendetwas war anders,ich konnte es niemandem erklären,daß ich starke Unruhe in mir trug,meine Gedanken ständig ums Essen,beziehungsweise ums Nichtessen kreisten.
Im Gegenteil,ich spürte zum ersten Mal,nach vielen Jahren,so etwas wie Stärke,Selbstbestimmung,Macht ,mich selbst wieder.
Eine Leere bestimmte mein Leben,die ich nun ausfüllen konnte,mit der Beschäftigung um den eigenen Körper.
Ich triumphierte,gewann,hatte plötzlich keine Angst mehr vor Menschen,wobei ich so weit entfernt war von menschlicher Nähe,wie nie zuvor.Dieser Tag verlief damals etwas anders,als die Tage zuvor.
Ich trank literweise LightCola und Mokkakaffee,um meinen Kreislauf aufzupuschen.
Mir wurde manchmal schwarz vor Augen,alles schwebte irgendwie.
Ich saß Abends auf meinem Bett,hatte mein allein eingenommenes Abendessen,gerade hinter mir.Ein Teller mit Wasser verdünnter Milch und ein paar Cornflakes,die wie Inseln auf der Flüssigkeit schwammen.
Mein Vater kam herein,meine Mutter folgte kurz darauf.
So konnte es nicht weitergehen,es fiel zunehmend auf,daß es mir schlecht ging.Meine ganze Fassade,die ich in den letzten Monaten aufrecht erhielt,stürzte ein.
Ich fing an zu Weinen und sagte den Beiden "Ich kann nicht mehr,ich bin am Ende".
Mein Vater hatte vor einem halben Jahr einen eingeklemmten Nerv.Er flieste sein Büro und hockte zwei Tage auf seinen Knien,bis sein Bein taub wurde.
Er ging damals zu einem Neurologen,dem einzigen Neurologen unseres Ortes.
"Sollen wir morgen mal zusammen dorthin gehen?"frug er meine Mutter und mich.
Ich ging am nächsten Morgen mit meiner Mutter zum Arzt.
Er stellte mich auf die Waage,nachdem er die Worte meiner Mutter in die neue Akte schrieb.Die Waage blieb bei 50 Kilogramm stehen,als ich ohne Bekleidung darauf stand.
Ich sprach von meinem Abitur,den ganzen Stress drumherum und von dieser seltsamen inneren Anspannung,der Leere in dem Leben,die für mich Alltag wurde.
Ich konnte damals nicht sagen,daß ich auch meine Eltern,eigentlich die ganze Familie am liebsten verlassen hätte.Dabei hielt ich mich dort selbst gefangen,klebte irgendwie an der Atmosphäre zuhause,das merkte man nun.
Daß ich Kalorien zähle und meine Eltern belüge,verschwieg ich damals noch.
An diesem Tag bekam ich neben einer Valiuminjektion und verschriebenem Antidepressivum,eine Diagnose,eine Erklärung dieser ganzen Umstände,Schwarz auf Weiss.
Damals wurde ich als depressiv mit Verdacht auf Schizophrenie eingeordnet.
Die Geschichte ging weiter,Jahre folgten,die fürchterlich waren.Neue Diagnosen kamen hinzu,kurz gesagt,alles war anders,nach diesem Tag im Juni.
Zurück ins Heute gekehrt gehe ich den Weg im Park erneut lang.
Ich mache eine kurze Pause,sehe mich im Innern hier sitzen,so wie damals.
Hätte ich mir Jahre ersparen können?Hätte ich die Odyssee durch Kliniken,die Reise durch vier Bundesländer verhindern können?
Für einen Moment steht die Zeit still.
Ich bin dankbar,daß ich das alles überstanden habe.
Mit der Krankheit kam ein anderes Leben.
Ich hätte damals nicht Studieren können,Ausziehen aus dem Elternhaus schon gar nicht.In mir steckt ein kleiner Junge,der damit total überfordert war.
Heute bin ich hier Besucher,habe die Möglichkeit,den Weg hinter mir zu lassen.Wir sprechen heute anders miteinander,die Zeit hat sich gravierend verändert.
Niemand weiss,daß ich heute nochmal dort war,nochmal der Junge mit den dünnen Beinen war,der vor fast zwanzig Jahren hier lang ging.
Es ist nicht schlimm,krank zu sein,es ist schlimm,es nicht zu wissen und noch nicht zu kennen.
Für einen Moment steht die Zeit still,bis ich schliesslich zurück in mein Elternhaus gehe,wo ich nun ein Besucher bin.