Zwei Koffer,eine große Stadt und Borderline?

Entscheidungen verändern das Leben,besonders wenn sie von kleinen Zufällen,oder manchmal auch von nur einem Wort abhängen .
Es hat seine Zeit gedauert, bis in meiner Akte dieses seltsame Borderline stand.
Am Anfang habe ich das Wort gehasst,in den Kliniken ,in denen ich zuvor war, war ich magersüchtig, depressiv,zwanghaft oder psychotisch.Nun auch noch Borderline-Persönlichkeitsstörung ?...
Ich wollte mehr über diese Krankheit erfahren und ging in eine Buchhandlung.
Es war Winter 1997, damals war Borderline noch nicht ganz so bekannt, wie es zehn Jahre später sein würde.
Die Verkäuferin zeigte mir auf ihrem Bildschirm eine Liste von Literatur zu diesem Thema.
Bisher wurden bei mir meist die ,gerade akuten ,Symptome behandelt weniger die komplexe Krankheit. Jedenfalls gab es hilfreiche Literatur, der Bildschirm war recht gefüllt.Ich wählte einen Ratgeber des Schattauer Verlages aus.
Es war das Buch eines, in Hamburg praktizierenden Oberarztes,der sich auf die Behandlung von BPS (Kurzform von Borderline) spezialisiert hat, Dr.Dulz.
Ich konnte mich schnell wiederfinden in den Fallbeispielen und der Beschreibung der einzelnen Symptome.
Es gab eine eigene Station am Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll, die von Herrn Dulz im Buch genau beschrieben wurde. Irgendwie sah ich ein kleines Licht, inmitten meiner chaotischen Innenwelt.
So schrieb ich im März 1998 einen Brief an die Station, die damals Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet aufnahm .( Das Krankenhaus hieß damals Klinikum Nord ).
Nach überraschend kurzer Zeit erhielt ich eine Antwort, eine Einladung zu einem Vorgespräch. So fuhr ich im April 1998 für zwei Tage nach Hamburg.
Inmitten des riesigen Klinikgeländes verlor ich mich. Die Stationen lagen verstreut auf dem Gelände und wirkten etwas unheimlich auf mich.Die Borderlinestation befand sich in unmittelbarer Nähe der forensischen Abteilung.
Es war eines der älteren Gebäude.Bis dahin hatte ich keine Vorstellung von dem Klinikum, ich hatte keinen Internetzugang,oder Broschüren zur Verfügung.
Ochsenzoll,wie es in Hamburg genannt wird, ist groß wie ein Dorf mit Sportplatz, Schwimmbad ,Bücherei, Therapiezentrum, Kapelle,Cafe´s etc.

In der großen Zentralreinigung wurde das Musikvideo zu Wolfsheim "Kein zurück" gedreht. Der Film "Gegen die Wand ",von Fatih Akin ,zeigt im Anfang die Aufnahmestation des Klinikums .(Beides wurde nach meinem Aufenthalt dort gedreht.)


Mit großer Aufregung ging ich ins Vorgespräch. Zu meinem großen Glück wurde mir der Therapieplatz schließlich angeboten. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag zwischen 12 und 18  Monaten, von Fall zu Fall individuell.           
Ins Hotelzimmer zurückgekehrt, gingen mir an diesem Abend viele Gedanken durch den Kopf. Wenn ich diese Chance nicht ergreifen würde,hätte ich einen Fehler begangen,den ich hinterher lange bereue.Die Therapieplätze waren rar. Mir blieben drei Wochen,in denen ich mich auf die Therapie vorbereiten konnte,denn ich erhielt erneut recht schnell Antwort aus Hamburg.
Welchen Weg werde ich gehen ? Komme ich nach der Therapie zurück an den Niederrhein ?
Mit zwei Koffern ,Reisetasche und Rucksack ging ich auf die Reise. Meinen Fotoapparat und meine Aquarellfarben wollte ich auf jeden Fall mitnehmen.

Es vergingen zwei Sommer und ein Winter, auf diesem großen Gelände,in der großen Stadt.Damals konnte ich Hamburg nur aus der Sicht eines ängstlichen,depressiven Wesens erleben. Meine ersten Bilder dieser Zeit zeigten düstere Seelenwelten. Schambehaftete Themen, Ängste ,ich packte sie alle mit aufs Papier. Am Anfang mit Öl- und Pastellkreide. Dies war eine Seite meiner Wahrnehmung, auf der anderen Seite,sah ich eine wunderschöne Hafenstadt,mit unendlichen vielen Gesichtern. So hatte ich Vorlagen für meine ersten Aquarelle. Mich frustrierten meine Bilder zu Anfang, es waren recht ungeübte Versuche,die Farben haben Eigendynamik .
Auf dem Klinikgelände gab es eine große Malwerkstatt, mit eigenen Ausstellungen.
Ich hatte ein kleines Publikum gefunden,bekam Lob und Kritik für meine Aquarelle,beides konnte ich nur schwer aushalten.



Von Anfang an hatte ich den Anspruch an meine Versuche zu hoch gestellt.Viele Bilder landeten im Papierkorb,bevor ich ein zufriedenstellendes Ergebnis erreichte.
Ich vergriff mich in den Farbtönen,malte aus Sicht einer Psychose, reizüberflutet und viel zu intensiv in der Farbgebung. Genau dies war meine Wahrnehmung, die Welt,wie ich sie Tag für Tag erlebte.
Hatte ich einen Albtraum ,griff ich hinterher zu Ölkreiden und thematisierte den Traum auf dem Bild. So kamen Innenansichten ans Tageslicht.Dinge,die ich nicht sehen wollte.
Ich war nicht alleine, viele Patienten,auch von anderen Stationen, malten in der Malwerkstatt. Es entstand die Ausstellung " Hunger nach Leben ".
Es gab nun einen Raum für unsere Bilder, wir füllten ihn,mit unseren Lebenswegen, auf Leinwand gebracht.
Mich beherrschte immer noch Magersucht und Bulimie zu dieser Zeit .Meine Welt sah finster aus,von Chaos umgeben.
Nach der Therapie und am Wochenende hatten wir Zeit, Ausflüge zu machen.Mich beeindruckten der Hafen und der Ohlsdorfer Friedhof sehr.Erster,war fast jedes Wochenende mein Ziel Der Friedhof teilte eine gewisse Trauer, Abschied mit mir.Ich mag Friedhöfe,besonders diesen großen Parkfriedhof.
Die Engelsstatuen sind wunderschön und dienten als Motiv vieler Bilder.
Hamburg war für mich Tor zu einer (anderen) Welt. Längst hatte die Therapie ihre Spuren hinterlassen und es stand für mich fest,daß ich meinen Weg hier weitergehen wollte,
im Norden.
Die Malerei hat mich begleitet, sie war wie ein Tagebuch ,wie eine Eigentherapie,in diesen Jahren.
Ich kehrte, Jahre später, nochmal an diesen Ort zurück. Die Klinik wurde inzwischen privatisiert. Station 19,die Borderline-Station, wurde abgerissen und auf ihrem Platz ist heute eine weitere forensische Abteilung.
Ich mag es gar nicht aussprechen, doch ich war traurig, etwas vertrautes war weg, man hatte einen Teil meiner Vergangenheit "abgerissen" und in Erinnerung gebannt.
Die Borderline-Station nimmt heute nur noch Patienten aus dem Einzugsgebiet auf.
An vielen Standorten gibt es heutzutage DBT- Konzepte. Damals war die dialektisch-behaviorale Therapie noch nicht so verbreitet und es war Glücksache einen Therapieplatz in Hamburg zu bekommen.
Hamburg war eine Station meiner Reise, die mein Leben zutiefst verändert hat.Obwohl es wahrhaftig keine einfache Zeit war, so habe ich viel über mich erfahren. Die Hansestadt besuche ich gerne weiterhin, denn sie ist wunderschön.
( Die Diagnose Borderline-Persönlichkeit wurde ganz nebenbei dort ausgeschlossen in meinem Fall )


Wolfsheim - Kein Zurück