ZwischenWelt(en)

Der Regen der Nacht trocknet.Dunst liegt über der Strasse in die Bremer Vahr.
Zügig fahre ich mit meinem Fahrrad an der Autokolonne,die sich an einer Ampelkreuzung gebildet hat vorbei.
Ich muss mich etwas beeilen,denn ich bin gerade Klinikpatient und nutze die freie Zeit zwischen Frühstück und Ergotherapie für eine kurze Radtour.
In einem Restpostenmarkt in der Umgebung möchte ich mir einige Dosen Sprühlack holen für einen alten Mopedrahmen der zuhause auf mich wartet.Eigentlich wartet er nicht,denn er ist auch hier in der Klinik die ganze Zeit in meinem Kopf.Die Restauration beschäftigt mich bis in mein Zimmer,in dem ich leider mit einem Mitpatienten untergebracht bin. Soviel zum Thema Spezialinteresse und soziale Schwierigkeiten im Alltag...
Es tut gut so früh unterwegs zu sein. Wann wäre ich sonst um diese Uhrzeit schon hier? Ich lasse die Galopprennbahn rechts liegen und betrete den Postenmarkt.

Meinem Alltag zuhause bin ich zwangsweise entflohen,ich habe mich in den letzten Wochen dort wieder ziemlich an die physischen und psychischen Grenzen gebracht.
Vor der Kasse packe ich schnell noch einige Getränke mit aufs Band und meine gesuchten Lacke,RAL-Nummer 2004, Reinorange .

Zurück in der Klinik räume ich den Einkauf schnell in den Schrank. Mein Zimmernachbar,optisch älter als ich,jedoch acht Jahre jünger,fragt nach,wo denn heute seine Gesprächsgruppe stattfindet .Er hat auch eine Zwangsstörung und es war keine gute Idee des Stationsteams uns in ein Zimmer zu legen.
Bett neben Bett,hochexplosive Gedanken in meinem Kopf.
Wir kommen uns hier mächtig ins Gehege.Er hört gerne auch nachts Radio.Ich hingegen weder tags noch nachts. Ich habe bereits mehrmals den roten Knopf gedrückt,damit die Nachtschwester auch mal merkt,was er da macht.
Ich bin wohl auch nicht so einfach für ihn,denn er kann mich schlecht einschätzen,wenn ich mal Ruhe brauche und nicht reden möchte.Das kommt gehäuft vor,denn die 20 Mitpatienten auf dieser allgemeinpsychiatrischen Station führen bei mir zu einem sozialen Overload,besser Overkill.
Mir dröhnen die Ohren von all ihren Gesprächen,schon am Morgen,wenn ich versuche mich zu sortieren und aus Ängsten zu befreien.Gerade aus dem Bett sind viele schon sehr redewillig.
Es sind viele jüngere Patienten unter ihnen,die wenigsten sind so depressiv,daß sie sich in Schweigen hüllen. Die Zeit verändert auch die Krankheiten ,zumindest die Inhalte.
Diagnosen kommen ( ADS,ADHS,Posttraumatische Belastungsstörung,auch Asperger).Andere Krankheitsmodelle sind nicht mehr so geläufig (endogene Depressionen,Neurosen,etc.)
Ich nutze jede stille Ecke dieser Station,am liebsten sitz ich am Seitenfenster und schaue hinaus auf Himmel und Bäume .Dabei plane ich per smartphone meine Restauration und kommuniziere mit anderen,die dieses Hobby mit mir teilen.
Ich bin also innerlich nicht wirklich hier anwesend als Patient.

In der Ergotherapiegruppe geht es mir jedoch richtig gut,schnell packe ich meine Acrylfarben und Pinsel aus,sichere mir einen Platz im Flur,baue die hauseigene Staffelei auf.
Malen, Spezialinteresse Nummer Zwei vereinfacht mir knapp zwei Stunden meiner Zeit hier in der Klinik,am Dienstagmorgen. So nutze ich diesen Ort,mit Erlaubnis des Kunsttherapeuten auch ausserhalb der Gruppenstunde. Dann umso lieber,denn es kommt nicht so häufig zu plötzlichen Stimmen hinter dem Rücken,die mich erschrecken,denn ich versenke mich gerne in die Malerei.
Ich selbst nenne es auch so,versenken,oder einsinken in eine mir vertraute und wohltuende Welt,die mir viel mehr entspricht als alles um mich herum erlebte.
Da stören mich schnell andere Patienten und Therapeuten.Mit Lob kann ich schon gar nicht umgehen,darauf bin ich auch nicht hinaus.Ich bringe es fertig und lasse die Bilder irgendwo in meinem Keller verschwinden.Der Kunsttherapeut arbeitet insofern dagegen,daß er mich förmlich zu einer Ausstellung hier in der Klinik verdonnert hat.
Wir sprechen darüber und auch das fällt mir schwer,erlebte Öffentlichkeit,Gespräche kosten mich Energie,mein T-Shirt ist durchgeschwitzt danach ,ich flüchte unter die Dusche.Zuvor hat sich mein T-Shirt noch mehr vollgesogen,im engen Fahrstuhl.
Störende Gerüche aus der Küche schweben durch die Flure des Klinikkomplexes.
In der Toilette des Zweibettzimmers fühle ich mich ebenfalls unwohl,ständig kann jemand das Zimmer betreten,hier gibt es keine Intimsphäre.
Bis zu diesem Teil meines Berichtes sind doch schon einige Pro und Contra-Punkte in Bezug auf diesen Psychiatriealltag deutlich geworden.

Nachmittags brauche ich nicht an der Depressionsgruppe teilnehmen,nach zwei Sitzungen wurde deutlich,wie es mir hinterher katastrophal ging.Ich saß zuerst mit extremer Müdigkeit zwischen den anderen sieben Patienten,versuchte irgendwie im Hier und Jetzt zu bleiben. Das Hier und Jetzt ist auch so ein Modebegriff der Therapeutensprache geworden.
Ganz darin zu bleiben ist wohl deren Vermittlungsauftrag.
Da ich nicht die für Depressionen bekannten Auslöser habe,zumindest die meisten nicht,wurde ich aus der Gruppe befreit.Beim letzten Mal hatte ich mich innerlich soweit zurückgezogen,daß ich noch auf dem Stuhl sitzen blieb nach deren Schlusswort und nur noch mit letzter Kraft ins Bett zurückgefunden habe,meine Stimme war wieder weg.
Zum allerersten Mal habe ich die,aus der Autismustherapie gebastelten Karten eingesetzt,als der Pfleger hineinkam um nach mir zu schauen.
Das war mir oft zu peinlich,allerdings kann so meine Umwelt besser verstehen was mit mir los ist.

Zehn Tage zuvor hatte ich diesen Zustand am Bremer Hauptbahnhof ,die Züge fielen aus,ich bekam zuerst Panik weil alles meine Reihenfolge veränderte und danach taumelte ich in eine Apotheke.Totaler Overload mal wieder.Ich wurde zur Seite genommen,weil ich wohl aussah,als kollabiere ich gleich.Puls vielzu hoch,T-Shirt durchtränkt,Sprache weg ,Umfeld bedrohlich,Plan durcheinander,alles vorbei,...,im Rettungswagen erholte ich mich kaum,man hat ihn gerufen,weil ich eine Pillenschachtel mit Namen aus der Klinik mitführte und eh ich mich versah,war ich wieder zurück auf Station,begleitet von zwei Engeln in rot-weiss.
Sowas ist mir nicht nur peinlich,es verschlimmert auch die Angst,daß es mir in der Öffentlichkeit so richtig schlecht geht.


Gegen Mittag verliess ich das Klinikgelände in Richtung Heimat,wieder mit Fahrrad.
Beide Fahrradtaschen waren gefüllt mit Getränken und Bastelkrams für später zuhause.
Bleierne Hitze lag auf dem Asphalt und ich war froh die hektisch pulsierende Stadt in Richtung Weserdeich zu verlassen.
Auf der Brücke hielt ich kurz an,quasi mein Checkpoint Charly in eine andere Welt.
In der Tat ist es schnell angenehmer am anderen Ufer des Flusses.
Der Radweg auf dem Deich führt vorbei an einem Vogelschutzgebiet und Nebenarmen der Weser. Kleine Boote sind an einem Steg entlang aufgereiht im Wasser,eine Silbermöwe zieht darüber ihre Kreise,maritime Idylle,alles wirkt wie auf einer Urlaubspostkarte.
Urlaub ist das hier für mich nicht,ich komme gerade und fahre später wieder ins Haus des Seelenleidens.

Aber diese Stunden machen es vergessen und nehmen mir etwas die Angst vor zuhause.
Angst vor zuhause,alleine diese drei Worte sind schon skuril.
Leser mit Ängsten,Zwängen wissen jedoch wovon ich hier berichte.
Nach 90 Minuten biege ich ein in die Siedlung,in der ich seit 13 Jahren wohne.
Ich höre Rasenmäher,vertraute Stimmen,die ihre Kinder ermahnen,hinter Zypressenhecken.
Das Fahrrad schiebe ich in den Ständer und habe noch nicht den zweiten Fuss auf dem Boden,als mein Nachbar auftaucht und mich fragt,wie es mir geht.
Smalltalk mit Abchecken der Lage nenne ich das .Herz pulsiert,Stimme ,gebrochen, sagt dass es mir gut ginge.Alles andere hat in diesem Hier und Jetzt kein Platz für mich. 
Im Briefkasten ist zum Glück nur Werbung und eine tote Fliege.
Ich stelle die Taschen ab,packe hektisch die Sachen hin und her,räume Kartons um und auf ,renne gefühlt zehnmal die Treppe hoch und runter.
Schnell giesse ich die Blumen auf dem Balkon,fege,schneide,mache alles wieder in den Urzustand.Am liebsten würde ich den Rest meiner Zweiraumwohnung auch nochmal so richtig gründlich bearbeiten,doch dazu bleibt keine Zeit.
Es bleibt jedoch soviel Zeit,um zu spüren,dass dies meine Welt ist.
Hier lebe und atme,schlafe,putze,mache und tue,fürchte,freue und bewege ich mich ausserhalb der Klinik.
Es tut gut hier zu sein,es ist schön,dass es diesen Ort gibt,wenn auch viel Leid hier geschehen ist und wird.
Ich freue mich wieder auf die Entlassung und meine Projekte warten auf mich.
Kartons und Kisten ermahnen mich aber auch,alles dosiert zu machen,denn es ist viel.
Es wird noch lange dauern bis mein Innen und Aussen hier annähernd eins sein werden.
Gerade die Sicht auf jedes Detail sind Segen und Fluch.
Anders kann ich mir es jedoch nicht vorstellen.Ich bin einfach kein Mensch,der hier schnell ein Sofa,ein paar andere Möbel und einen Fernseher hineinstellt und dann den halben Tag Netflix schaut.
Das gibt es auch und das ist auch gut so.


Die Rückfahrt zur Klinik gestaltete sich entspannt,hinterher war ich sehr erschöpft.
Dies war meine erste 60 Kilometer-Tour dieses Jahr.
Ich ging in das Badezimmer des Zweibett-Zimmers und war entspannter.
Abends dachte ich noch,ob ich bald nachhause komme ? Schaffe ich meinen Alltag dort überhaupt wieder ?

Während ich diese Zeile schreibe,bin ich gerade eine Woche zuhause.
Die Erinnerungen an die Klinik verblassen,die WhatsApp Nachrichten vereinzeln sich ,während der Entlassung habe ich dem ein oder der anderen noch oft geschrieben.
Ich mag dieses Leben,auch wenn ich darin oft an Tiefpunkte gelange.Vielleicht aber gerade auch deshalb.Meine Seele kann einen sehr weiten Bogen schlagen zwischen Dunkelheit und Lebensfreude.
Es ist schön dass sie dazu diesen Raum hat und offenbar geht es ihr nicht alleine so,auch wenn sich das von dieser Seite der Weser aus so anfühlt...